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Dieser Text ist meine erste Skizze für eine Philosophie des Spiels. Der Text ist sehr komprimiert und fasst die zentralen Thesen zusammen, die ich ausführlich in den einzelnen Kapiteln des eigentlichen Buchs entwickeln werde. Wenn manche Zeilen schwer zu lesen sind, dann liegt das vermutlich daran, dass ich mich bemühe meine Sichtweisen an relevante wissenschaftliche und philosophische Positionen anzulehnen und ich mich auch klar von einigen Sichtweisen abgrenze. In der finalen Version des Textes werde ich mich auf jeden Fall um eine flüssige Lesbarkeit bemühen. Untersucht werden in dieser Skizze fundamentale Phänomene unserer Existenz, die empirisch nur schwer erklärbar sind. Die Unbestimmtheit und Dynamik dieser Phänomene offenbaren für mich den Spiel-Charakter unserer Existenz. Als zentrale Phänomene, die meine Sichtweise unterstützen, habe ich bisher die folgenden ausgemacht: Realismus, Unendlichkeit, Leere, Bewegung, Freiheit, Natur und das Spiel an sich.

In der Jugend stellte ich mir lange die Frage nach dem Sinn des Lebens. Warum sind wir hier? Haben wir eine Aufgabe? Geht es darum, den armen Menschen zu helfen? Wäre es nicht zu wenig, einfach nur Defizite zu beheben. Braucht es nicht irgendwelche übergeordneten Ziele? Gibt es einen Gott? So las ich Bücher von Feuerbach, Hesse, Homer und Freud und fand keine Antworten. Irgendwann fasste ich den Entschluss, mich aus diesem Fragen-Labyrinth zu befreien und einfach daran anzuknüpfen, was das Leben lebenswert macht. Und hier landete ich schließlich beim Spiel. Es waren die Gesellschaftsspiele in der Familie, die Erfüllung brachten. Es war das Spiel der Gitarre, das mich begeisterte. Und ist nicht alles Musizieren ein Spiel? Was ist mit dem Schauspiel? Theater? Fußball spielen, Volleyball. Vater-Mutter-Kind war das Spiel unserer Kindheit. Wir gehen arbeiten, um uns zu ernähren und uns ein sicheres Zuhause zu schaffen. Wir Träumen und versuchen Träume wahr zu machen. Wir entwickeln Freundschaften, verlieben uns und werden Vater, Mutter, Kind. Ist es nicht das? Ein Spiel. Damals entschied Ich mich, meine Zweifel zur Seite zu legen, um mit dieser These durchs Leben zu gehen: Der Sinn des Lebens ist es, zu spielen.

Heute als Vater, Opa und Rentner finde ich die Zeit, diese Fragen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Dieser Text ist also ein Blick darauf, was Wissenschaft, Philosophie und Religion zu einer Philosophie des Spiels beitragen können. Dazu untersuche ich zunächst unsere alltägliche Realität.

Stand heute, lässt sich sagen, dass bedeutende Teile unserer Realität eigentlich bestens erforscht sind. Von der Medizin über die Ökologie bis zu den komplexen Infrastrukturen unserer Wirtschaft hat die Wissenschaft die Grundlagen für unsere Zivilisation gelegt. Festzuhalten ist auch, dass es Dinge in der Welt gibt, die nicht erklärbar sind. Genauer gesagt sind es sogar sehr grundlegende Dinge, die wissenschaftlich nicht erklärbar sind. Weder die Frage, wie das menschliche Bewusstsein entsteht, noch die Frage, was genau die Fundamente von Materie sind, kann die Wissenschaft befriedigend beantworten. Es gibt zum Teil gut begründete Modelle, aber die Rätselhaftigkeiten von Bewusstsein und Materie bleiben Elemente  unserer alltäglichen Realität. Die Wissenschaft behauptet sogar, dass der allergrößte Teil unseres Universums von derartigen Rätselhaftigkeiten durchzogen ist (Dunkle Materie). Deshalb stellt sich die Frage: wie können wir dann überhaupt Boden unter die Füße bekommen? Was ist das Spielfeld auf dem sich unser Leben abspielt? Gibt es Gewissheiten auf die wir uns im Leben verlassen können?

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Realismus
Fakt ist, dass wir den Tisch auf den wir klopfen als Teil unserer Realität erleben, genauso wie die Gedanken, die wir denken, auch wenn es keine wissenschaftlichen Gewissheiten über deren substanzielle Beschaffenheit gibt. Fakt ist auch, dass wir uns auf die Wahrnehmung dieser Erfahrungen einigen können und jeder von uns sie mit den gleichen Begriffen beschreiben kann. Die Erfahrung dass dieser Tisch auch außerhalb unseres Bewusstseins existiert und das Wissen darum, dass diese Erfahrung von jedem Menschen bestätigt werden kann, nennen wir Realismus. Das was wir um uns herum wahrnehmen existiert wirklich, genauso wie die Menschen und ihre Gedanken, denen wir begegnen. Dieser Realismus gibt uns ein Fundament, auf dem wir unser Gemeinwesen aufbauen. Ein faires demokratisches Miteinander ist auf Realismus angewiesen.

Fakt bleibt aber eben auch, dass wir für wesentliche Teile unserer Realität keine überprüfbaren Erklärungen haben. Noch mehr sogar: Erklärungen basieren immer auf unserer Sprache und Sprache hat keine physikalisch nachweisbare Verbindung zu den Dingen in der Realität. Als Ludwig Wittgenstein dieses Dilemma erkannte, versuchte er das Unerklärliche aus den philosophischen Diskursen zu verbannen. In seinem Tractatus Logicus Philosophicus formulierte er: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man schweigen“.

Dieses Schweigen ist allerdings nicht in Einklang zu bringen mit der Neugier und dem Wissensdrang des Menschen. Religion, Kunst, Musik und das Sprechen darüber bilden schon immer den Erfahrungsraum für das Unerklärliche. Die Logik liefert letztlich keinen vernünftigen Grund, das Unerklärliche aus unserem Alltag zu verbannen. Zumal es seit Gödel eine bedeutsame Erkenntnis der Logik ist, dass in jedem hinreichend starken System Aussagen existieren, die weder bewiesen noch widerlegt werden können.

Realismus und Unerklärbarkeit sind also keine Widersprüche sondern zwei verschiedene Aspekte unserer alltäglichen Wirklichkeit. Das Unerklärliche erkunden wir mit der Kunst, der Musik und der Religion und das Erklärliche bildet die Fundamente von Wissenschaft und gesellschaftlicher Realität.

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Unendlichkeit
Eines der unerklärlichen Phänomene unserer Realität ist die Unendlichkeit. Beim Blick in den Nachthimmel bekommen wir ein Gespür davon. Befragen wir die Astronomie, dann gibt es offensichtlich keine Möglichkeit, ein definiertes Ende oder einen Anfang des Universums ausfindig zu machen. Möglicherweise leben wir in einem endlosen Multiversum in dem das von uns beobachtbare Universum nur ein Spezialfall ist. Alan Guth, einer der Autoren der Urknall-Theorie, erforscht seit einigen Jahrzehnten diese Frage. Astronomische Beobachtungen bestätigten Guth´s Modell des „Inflationären Kosmos“, mit dem er in den 80er Jahren der Big-Bang-Theorie ein neues Fundament gegeben hat. Dieses Modell zeigt unter anderem, dass die Ausdehnung des Raums zwischen Galaxien schneller vor sich geht als die Ausbreitung des Lichts. So entsteht im Universum eine Sichtbarkeitsgrenze hinter der wir nichts mehr wahrnehmen oder messen können, weil nichts schneller als die Lichtgeschwindigkeit sein kann. Ereignisse und Galaxien hinter diesem sogenannten Hubbel-Horizont verschwinden für immer aus unserem Blickfeld. Falls es also irgendwo jenseits dieses Horizonts einen Anfang oder ein Ende geben sollte, könnten wir diese Grenzen nicht erblicken. Und selbst wenn wir ein Ende entdecken könnten, stellt sich immer wieder die Frage nach dem Dahinter. Alles spricht also dafür, unsere Welt als unendlich zu betrachten. Auch in der hinduistischen und buddhistischen Philosophie geht man schon lange von einem unendlichen Universum aus.

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Leere
Ein anderes schwer erklärbares Phänomen ist die Leere. Das gigantische Ausmaß des leeren Raums zwischen den Galaxien unseres Kosmos beeindruckt selbst erfahrene Astronomen immer wieder. Die Beschreibung der Leere in Struve´s Lehrbuch der Astronomie ist überwältigend:

„Die Durchschnittsentfernungen zwischen benachtbarten Galaxien sind von der Ordnung einer Million Lichtjahre und der Raum zwischen den Galaxien ist sogar in noch höherem Grade leer als der interstellare Raum innerhalb einer einzigen Galaxis. In dem erforschbaren Teil des Universums entfallen angenähert 10 000 000 000 000 000 000 000 000 000 Kubikzentimeter leeren Raumes auf jeden Kubikzentimeter Sternmaterie. Da die Durchschnittsdichte eines Sterns nur wenig größer als die des Wassers ist, kann die vorstehende Feststellung auch so formuliert werden, daß die durchschnittliche Dichte des Weltalls in der Ordnung ein Gramm pro 1028 Kubikzentimeter ist. Dies ist ungefähr zehn Billionen mal weniger Dicht als das, was in der gewöhnlichen Laboratoriumstechnik als Hochvakuum betrachtet wird“ (Struve,1967).

Den allergrößten Raum unseres Universums nimmt also eine endlose Leere ein. Interessanterweise berichten Quantenphysiker von ähnlichen Phänomenen, wenn sie auf atomarer Ebene die Abstände der kleinsten Teilchen beschreiben. Hier versucht Stefan Bauberger die Dimensionen des leeren Raumes zwischen den Elementarteilchen für seine Leser anschaulich zu machen:

„Das Atom besteht aus dem Atomkern und der Hülle aus Elektronen. Der Atomkern besteht aus Protonen und Neutronen. Protonen und Neutronen bestehen aus Quarks. Dabei sind die Quarks (und die Elektronen), wenn sie überhaupt eine Ausdehnung haben, mindestens um acht Größenordnungen kleiner als ein Atom. Würde man ein Atom auf eine Kugel mit 10 km Durchmesser ausdehnen (tatsächliche Größe: ca. 10-10m), dann hätte der Atomkern einen Durchmesser von ungefähr 1m. Quarks und Elektronen wären in dieser Vergrößerung kleiner als 0,1mm, falls sie überhaupt eine Ausdehnung haben.“ (Bauberger, 2018).

Alles, was sich in diesen enormen Entfernungen zwischen den Teilchen befindet ist leerer Raum. Doch was ist das nun eigentlich, leerer Raum?

Physikalisch sprechen wir von einem Vakuum. Früher bezeichnete man damit einen luftleeren Raum, der für sich genommen keine weiteren Eigenschaften besitzt. Diese Sichtweise lässt sich seit bekannt werden der Dirac-Gleichung jedoch nicht mehr aufrecht erhalten. Denn Dirac schloss aus seiner berühmt gewordenen Formel, dass der leere Raum selbst eine Eigenschaft besitzen muss, die das Entstehen von Elementarteilchen verursacht. Diracs theoretisches Modell des Vakuums wurde mehrfach experimentell bestätigt und bildet seitdem den Ausgangspunkt für die heute breit akzeptierte Quantenfeldtheorie. Diese Theorie geht davon aus, dass es einen vollständig leeren Raum nicht geben kann. Das Vakuum hat eine immer vorhandene Potenz, neue Teilchen hervorzubringen. Einen leeren Raum, im absoluten Sinne, gibt es nicht. Die Leere ist nur ein gedankliches Konstrukt für das es keine physikalische Realität gibt.

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Bewegung
Das Phänomen der Leere wirft eine weitere Frage auf: Welche Ursache gibt es für das Hervorbringen und die Bewegung der kleinsten Teilchen? Woher nimmt die Potenzialität der Leere ihre Impulse? Diese Frage war schon lange vor Diracs physikalischer Entdeckung Gegenstand philosophischer Spekulationen. So machte der indische Philosoph Nāgārjuna im 2.Jahrhundert klar, dass Leere nicht bedeutet, dass nichts in ihr existiert, sondern dass alles was es gibt, in abhängiger Entstehung existiert und das Dazwischen ist einfach eine substanzlose Leere. Ganz ähnliche Vorstellungen entwickelte im vergangenen Jahrhundert Gilles Deleuze, als er die Realität als ein ständiges Werden und Wandeln durch Differenz beschrieb. In dieser Differenz liegen für Deleuze die Fundamente des Seins und nicht etwa in irgend etwas Stofflichem. Nāgārjuna´s Philosophie der Leere legt nahe, dass es nichts gibt, was eine unabhängige isolierte Existenz haben könnte. Feuer existiert nicht ohne Brennstoff, Luft existiert nicht ohne Sauerstoff, der Raum existiert nicht ohne Elementarteilchen. Teilchen entstehen und verschwinden. Alles ist schon immer in Bewegung. Dies ist eine philosophische Sichtweise, die im Einklang mit den empirischen Ergebnissen der heutigen Quantenphysik steht.

Bleibt weiterhin die Frage, was bringt die Dinge in Bewegung? Was treibt Teilchen dazu an, einfach aus der Leere aufzutauchen und wieder zu verschwinden? Woher kommt der Impuls, sich zu bewegen? Die Planeten bewegen sich, die Moleküle, der Mensch, das Universum. Die Wissenschaft kann gut erklären, wie Bewegung vor sich geht aber sie hat keine Antwort auf die fundamentale Ursache von Bewegung. Was ist der initiale Impuls der bewegten Dinge? Gibt es so etwas überhaupt?

In der Philosophie hat diese Frage eine lange Tradition. Aristoteles ging von einem unbewegten Beweger aus, einem Gott, der alle Dinge in Bewegung hält. Andere Philosophen wie, Descartes, Spinoza oder Deleuze benutzten den in Vergessenheit geratenen philosophischen Begriff des „Conatus“, ein innerer Antrieb der bewegten Körper, der dem Wesen der Materie innewohnt und der bestrebt ist, sich selbst zu erhalten. Empirisch lässt sich so ein Impuls nicht nachweisen, aber er böte eine nachvollziehbare Anschauung für die Unerklärbarkeit der Tatsache, dass alles schon immer in Bewegung ist.

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Freiheit
Eine weitere ungeklärte Frage ist der Begriff der Freiheit. Freiheit ist ein fundamentaler Begriff unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und ein wichtiges Merkmal des Spiels. In der Philosophie ist der Begriff hoch umstritten.

Mein Verständnis von Freiheit lässt sich wie folgt beschreiben: Ein Mensch ist frei, wenn er gemäß den eigenen Wünschen, Erfahrungen und Überzeugungen handeln kann. Diese Freiheit gibt ihm die Möglichkeit, jederzeit zu entscheiden, welche Partei er wählt, welchen Beruf er ausübt oder welches sein nächster Schritt in einem Spiel sein wird. Freiheit in diesem Sinne bildet eine der Grundsäulen unseres Gemeinschaftswesens.

In philosophischen Diskursen begnet man im Gegensatz zu dieser Vorstellung immer wieder Definitionen von Freiheit, die zu unnötigen Widersprüchen führen. So wird zum Beispiel der freie Wille, von Inkompatibilisten als ein Wille definiert, der völlig frei von Voraussetzungen wäre. Nach dieser Logik, die den freien Willen als indeterministisch definiert, kann es keinen freien Willen geben. Übersehen wird dabei jedoch, dass es einen Willen ohne Wünsche, Erfahrungen, Überzeugungen und Voraussetzungen, also ohne Determinismus, ohnehin nicht geben kann. Wenn wir von der Freiheit des Willens sprechen, meinen wir, dass uns nichts und niemand daran hindern kann, unseren Willen zu formulieren. Die Freiheit des Willens liegt darin, dass wir gemäß unserer individuellen, deterministischen Voraussetzungen Entscheidungen treffen, ohne davon abgehalten zu werden. Das ist freier Wille. Ein Wille frei von Determinismus wäre nicht frei, weil er uns die Grundlagen zur Entscheidungsfindung entziehen würde.

Spinoza widerspricht nachvollziehbarer Weise einem inkompatibilistischen Verständnis von Freiheit. Für ihn ist Freiheit nicht die Abwesenheit von Determinismus. Freiheit ist für Spinoza vielmehr die Übereinstimmung mit der eigenen Natur: Ein Mensch ist frei, wenn er gemäß seiner eigenen rationalen Natur handeln kann.

Der Mensch hat allerdings immer auch die Freiheit, sich für das Böse zu entscheiden. Diese negative Seite der Freiheit zwingt uns Menschen dazu, moralische Maßstäbe zu entwickeln. Philosophen diskutieren vor diesem Hintergrund verschiedene Positionen, mit der oft auch als Last empfundenen Freiheit umzugehen.

Iris Murdoch sieht das Böse als ein Resultat der Selbstzentriertheit und mangelnden Aufmerksamkeit gegenüber der Realität und den Mitmenschen. Kant betrachtet das Böse als radikale Neigung der menschlichen Natur, die durch Vernunft überwunden werden muss. Hannah Arendt geht davon aus, dass man selbst unter totalitären Bedingungen das Böse vermeiden kann, wenn man die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und moralischen Urteilskraft bewahrt. „Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, ist die, unser eigenes Wohl auf unsere eigene Weise zu verfolgen, solange wir nicht versuchen, anderen ihr Wohl vorzuenthalten“ schreibt John Stuart Mill in seinem bekannten Aufsatz „Über die Freiheit“ (Mill, 1896).

Wille kann nicht inkompatibel mit Determinismus sein, auch nicht wenn er frei von Unterdrückung ist. Ein sinnvoller Freiheitsbegriff basiert auf Determinismus und erfordert moralische Urteilskraft.

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Natur
Das Spielfeld unseres Lebens ist die Natur. „Natur“ scheint ein ziemlich eindeutiger Begriff zu sein. Allerdings fällt auf, dass die Städte in denen wir leben von vielen Menschen keinesfalls als Natur angesehen werden, das Grün auf dem Lande hingegen schon. Einer derart verengten Auffassung des Naturbegriffs stellt sich der Künstler und Philosoph James Bridle entschieden entgegen. Warum soll der Ameisenhaufen, die Wohnstätte der Ameisen, zur Natur gehören und das Hochhaus, die Wohnstätte des Menschen nicht? Warum gehört das Kommunikationsnetzwerk der Pilze zur Natur und das Kommunikationsnetzwerk der Menschen nicht? Unsere Programmiercodes sind genauso natürlich wie die Sprach-Codes der Wale.

Unsere heutige Weltsicht zieht einen künstlichen Trennstrich zwischen Mensch und Natur und betrachtet Natur als reine Ressource. Durch diese verengende Denkweise verschleiern wir, dass wir Menschen in Wirklichkeit Teil dieser „Ressource“ sind. Mit unserem unermesslichen Ressourcenverbrauch beginnen wir unsere eigene Existenz zu vernichten. James Bridle plädiert deshalb dafür, ein Bewusstsein davon zu entwickeln, wie tief wir Menschen und unsere Kultur in der Natur verwurzelt sind. Ein solches Bewusstsein gibt uns die Chance, uns im Einklang mit der Natur zu entwickeln. Die Ressourcen-Ausbeutung des Menschen würde dann schnell als Selbstzerstörung offenbar werden.

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Spiel
Alles bewegt sich, Moleküle, Planeten, Gedanken, der Weltraum. Kein Physiker dieser Welt hat jemals einen bewegungslosen Gegenstand entdeckt. Selbst ein ruhender Kieselstein besteht aus vielen Milliarden schwingenden Elementarteilchen, welche durch ihre Bewegungsenergie die Konsistenz des Steins hervorbringen. Wir alle bewegen uns mit der Erde durchs All. Sogar der leere Raum bringt ständig neue Teilchen hervor, die sofort wieder verschwinden. Es ist ein unendliches Spiel, das auf allen Ebenen der Welt die Dinge für immer in Bewegung hält.

Objekte, genauso wie Pflanzen und Lebewesen tragen diesen grundsätzlichen Bewegungsimpuls in sich. Neugier und exploratives Verhalten sind beim Menschen genetisch vorprogrammiert. Wie stark die Neugier beim Menschen ausgeprägt ist, lässt sich allein am überwältigenden Umfang wissenschaftlicher Forschungsprogramme ablesen. Milliardenausgaben für Forschungs-Satelliten im All und für den „Large Hadron Collider“ machen deutlich, welch enorme Bedeutung auch Heute noch die Befriedigung der menschlichen Neugier hat.

Menschen suchen nach dem Allerkleinsten und nach dem Allergrößten. Im Allerkleinsten gibt es keine einzelnen identifizierbaren Objekte mehr. Es gibt nur Beziehungen, Potenziale und Bewegungen, die in größeren Dimensionen Objekte bilden. Dieses Spiel aus ständiger Veränderung und Differenzierung bildet das Fundament unserer Realität. Die Dinge der Welt sind nicht unveränderliche Einheiten, sondern dynamische Prozesse aus Differenz und Wiederholung.

Wir sehen dieses Spiel auf der Ebene der Elementarteilchen, auf der Ebene der Planeten genauso wie auf der menschlichen Ebene bei den Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt. Beziehungen formen die neuronale Struktur des menschlichen Gehirns und ergänzen dessen genetische Anlagen. Das Spiel ist ein sich selbst erhaltender Prozess, der bestrebt ist, die Dinge in Bewegung zu halten. Für Eugen Fink ist das Spiel eine Oase des Glücks, eine Quelle von Spannung und Erfüllung, die tief in der menschlichen Natur und der Struktur des Seins verwurzelt ist. Ähnlich sieht es Friedrich Schiller, der ein auf das Spiel gerichtetes geistiges und sinnliches Verlangen als Spieltrieb bezeichnet. Wir balancieren ständig zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Gut und Böse, zwischen Zwang und Freiheit.

Spielen ist nicht nur ein „So tun als ob“. Das „So tun als ob“ ist nur eine von zahlreichen Spielarten, das Sein zu spiegeln und erfahrbar zu machen. Vielleicht imitieren wir das Sein im Spiel, weil das Spiel das Fundament alles Existierenden ist.

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Literaturempfehlungen:  Balancieren
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Quellen:

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